Kunsthaus Graz

Graz – Vom Uhrturm zum Science Tower

Von Reinhard Mandl*
Der Frühling beginnt in Graz früher als in anderen Teilen Österreichs. Wenn in Wien noch Graupelschauer über die Stadt ziehen, sitzt man in Graz bereits in Gastgärten. Durch enge Altstadtgassen weht ein Hauch von Süden, der sich auch in der Architektur widerspiegelt. Seit 2011 trägt die ehemalige europäische Kulturhauptstadt auch den Titel „City of Design“. Noch dauert die Bahnfahrt von Wien nach Graz vergleichsweise lange, doch die Eröffnung des Semmering-Basistunnels rückt immer näher.

Auf zur „City of Design“

Anlässlich des Kulturhauptstadtjahres 2003 wurde die Bedeutung der Bahnhofshalle des Grazer Hauptbahnhofs als wichtigster Empfangsraum der Stadt für öffentlich Anreisende durch ein Kunstwerk von Peter Kogler gewürdigt. Bis heute überzieht ein Kunststoffgewebe Decke und Wandteile der Eingangshalle mit computergenerierten Formen, die wie virtuelle Flüssigkeiten über meinem Kopf zu schweben scheinen.

Ich trete hinaus ins Freie, gehe über den weiten Bahnhofsvorplatz, und nehme die nächste Straßenbahn zum Hauptplatz. Er ist neben dem Jakominiplatz der wichtigste Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs. Ich stehe vor dem Erzherzog-Johann-Brunnen und mein Blick wandert zwischen den vielen prächtigen Häusern hin und her. Das Rathaus beansprucht die gesamte Ostseite des Platzes. Schräg gegenüber sticht ein barockes Bauwerk mit auffälligen Stuckelementen auf der Fassade hervor: das Luegg-Haus an der Ecke zur Sporgasse.

Um die Grazer Altstadt von oben in Augenschein zu nehmen, empfiehlt sich ein Ausflug auf den Schlossberg, der über den steilen „Kriegssteig“ am Schlossbergplatz zu Fuß zu erreichen ist oder mit einem Lift, den ich mit dem KlimaTicket sogar gratis benutzen darf.

Der Schlossberg ist nicht nur wegen seiner Aussicht interessant, sondern auch aufgrund seiner Geschichte. Auf diesem markanten Punkt stand einst die Kleine Burg. Von ihrem alten Namen „gradec“ leitet sich „Graz“ ab. Die Kleine Burg wurde im 16. Jahrhundert zur uneinnehmbaren Festung ausgebaut, die selbst den Türken und später Kaiser Napoleon standhielt. Dennoch erzwangen die Franzosen 1809 die Schleifung der Befestigungsanlage. Den Glockenturm auf dem Gipfelplateau des Schlossberges und den Uhrturm konnten Grazer Bürger freikaufen. Der Blick von der Bürgerbastei auf die historische Grazer Altstadt, die 1999 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde, ist besonders eindrucksvoll, denn sie ist nahezu komplett erhalten und bietet mit ihrer einmaligen Ziegeldachlandschaft einen unvergesslichen Anblick.

Zurück ins Stadtzentrum, vom Schlossbergplatz durch die Sackstraße. Sie ist die älteste Straße der Stadt. Nach und nach wurde sie verlängert: Im „ersten Sack“ lebten vorwiegend Adelige. Im Großen Palais Attems haben heute zwei bedeutende Grazer Kulturinstitutionen ihren Sitz: die Styriarte, ein Sommerfestival für klassische und alte Musik, und der Steirische Herbst, ein spartenübergreifender Veranstaltungsreigen, bei dem internationale zeitgenössische Kunst im Mittelpunkt steht. Auf der gegenüberliegenden Seite der Sackstraße stehen weitere Prunkbauten, die unter anderem das Museum für Geschichte und das Graz Museum beherbergen.

Nächste Station auf meinem Weg ist das Kaufhaus Kastner & Öhler. Mit der Rolltreppe fahre ich Stockwerk um Stockwerk hinauf bis ins Dachgeschoss und besichtige so ganz nebenbei das traditionsreiche Stammhaus dieser österreichischen Kaufhauskette. Das Café Freiblick auf der Dachterrasse finde ich einen freien Tisch und genieße den schönen Blick auf die berühmten roten Ziegeldächer aus unmittelbarer Nähe.

Nach dem Mittagessen spaziere ich durch die Herrengasse und weiter zur Grazer Burg, der ehemaligen Habsburger-Residenz vor ihrem Umzug nach Wien. Im ersten Burghof gegenüber der Stiege III. befindet sich die gotische Zwillingswendeltreppe, ein Meisterwerk spätmittelalterlicher Handwerkskunst. Sie entstand im Jahr 1499 unter dem späteren Kaiser Maximilian I.
Über den Freiheitsplatz gelange ich in die Hofgasse und weiter in die Sporgasse, wo im Mittelalter Waffenschmiede und Sporenmacher ihr Handwerk ausübten. Heute sind hier traditionsreiche Geschäfte angesiedelt. Bei Hausnummer 22 werfe ich einen Blick in den Arkadenhof des ehemaligen Ordenshauses des Deutschen Ritterorderns, der mit rundgeschliffenen Steinen, den sogenannten Murnockerln, gepflastert ist.

Alle sonnigen Plätze in den zahlreichen Schanigärten der Altstadt sind jetzt, am frühen Nachmittag, bereits belegt. Die frühlingshafte Atmosphäre zaubert Heiterkeit in die Gesichter der Lokalbesucherinnen. Im Kontrast dazu ist die hohe Zahl der Bettler nicht zu übersehen, die an vielen Altstadtecken stehen und mit verzagten Minen auf Almosen hoffen.

Ich gehe auf der Erzherzog-Johann-Brücke über die Mur zum Kunsthaus Graz. Die bläulich schimmernde Blase des „Friendly Alien“ steht tatsächlich wie ein Außerirdischer am Murufer. Nein, das Kulturhauptstadtjahr 2003 ist keine Blase gewesen, die nach dem großen Rummel platzte! Dieses Großereignis hat das kulturelle Leben in Graz nachhaltig verändert, und die auffällige Architektur des Kunsthauses steht symbolhaft für den Beginn der neuen Ära.

Am Südtiroler Platz hält eine Straßenbahn der Linie 6. Sie fährt in die Smart City, einen der neuen Stadtteile. Spontan steige ich ein, und als ich sechs oder sieben Stationen später die Tramway wieder verlasse, bin ich ziemlich überrascht. Nicht vom Anblick des neuen Science-Towers, den ich schon von Bildern her kenne. Auch nicht von der Helmut-List-Halle gleich daneben. Das für mich völlig neue Graz-Feeling geht von einem modernen Wohnbau in der Waagner-Biro-Straße aus, der an beiden Seiten von verschiedenfärbig bemalten und übereinandergestapelten Containern begrenzt wird. Ich frage eine Anrainerin, die mich fachkundig aufklärt: Bei den Erdarbeiten für diesen Wohnbau wurden Fliegerbomben entdeckt, deshalb konnten keine Kellerabteile errichtet werden. Als Ersatz dafür ließ sich der Architekt die Container-Variante einfallen, die auch als originelles Stilelement in luftigen Höhen punktet.

Gut, dass es von der Waagner-Biro-Straße einen rückwärtigen Zugang zum Hauptbahnhof gibt, denn mein Zug fährt bald ab. Graz ist kaum weiter von Wien entfernt wie Linz, doch die Fahrt über den Semmering dauert doppelt so lange: Über zweieinhalb Stunden habe ich Zeit, um die vielen Eindrücke des Tages Revue passieren zu lassen.

Mein Fahrplan am 06.4.2022
Wien Hbf. ab 06:58, Graz Hbf. an 09:33. Retour: Graz Hbf. ab 18:26, Wien Hbf. an 21:02
CO2-Emissions-Ersparnis gegenüber einer Fahrt im eigenen PKW: 58,60 kg

* Dieser Text ist eine vom Autor gekürzte Fassung von Kapitel 7 seines Buches Österreich mit dem Klimaticket entdecken – 20 Ausflüge mit Bus und Bahn.