Spaziergang auf der Via Lauriacum durch Enns
Hoch über der Enns-Einmündung in die Donau errichteten die Römer an einem zuvor schon von Kelten besiedelten Ort das Legionslager Lauriacum. Seine einstigen Dimensionen lassen sich heute auf einem Rundweg erkunden. Das Museum Lauriacum am Hauptplatz zählt zu den bedeutendsten römischen Schausammlungen in Mitteleuropa. Es befindet sich direkt neben dem Stadtturm, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen von Enns, das ich bereits im Vorbeifahren durchs Zugfenster erspähe.
Die Morgensonne im Rücken
Ich sitze im Railjet-Express 160 von Wien nach Linz, der auf der neuen Weststrecke mit bis zu 231 Stundenkilometern durch die Landschaft fliegt. Kurz nach St. Valentin ist auf der linken Seite in Fahrtrichtung am Horizont bereits der Stadtturm von Enns zu sehen. Unverkennbar ragt er auf dem Plateau des Stadtberges über die Altstadt hinaus. Vorerst muss ich mich mit einem flüchtigen Blick durchs Zugfenster begnügen, denn mein Zug hält nicht in Enns. Ich fahre bis Linz, wo ich in eine Schnellbahngarnitur der Linie S1 umsteige, die mich auf der alten Westbahnstrecke zurück zum Bahnhof Ennsdorf bringt.
Mit der Morgensonne im Rücken gehe ich parallel zur Enns auf die Stadt zu und über die Ennsbrücke gelange ich bequem ans andere Ufer. Heute klingt das so selbstverständlich, doch nach dem Zweiten Weltkrieg verlief hier zehn Jahre lang die Demarkationslinie zwischen der sowjetischen und der US-amerikanischen Besatzungszone. Diese Brücke wurde zu einer riskanten Barriere zwischen dem Ost- und dem Westteil unseres Landes. Vor allem die russischen Kontrollen verliefen oft willkürlich und waren gefürchtet. Für manche Landsleute endete der vermeintlich kurze Weg über die Ennsbrücke in einem sowjetischen Straflager in Sibirien.
Vor der Ortstafel „Enns“ sticht mir ein Gedenkstein mit der Inschrift „Lauricum Florianus 4. Mai 304“ ins Auge. Florian von Lorch war ein pensionierter Offizier der römischen Armee, der sich geweigert hatte, dem christlichen Glauben abzuschwören. Zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian wurde er zum Tode verurteilt und mit einem Stein um den Hals in die Enns geworfen.
Ich gehe den Wiener Berg hinauf Richtung Altstadt, die von einer Stadtmauer umgeben ist. Für ihren Bau wurden Steine des römischen Legionslagers verwendet. In der Wiener Straße blicke ich durch ein Haustor auf die wuchtigen Arkaden im Inneren der ehemals landesfürstlichen Burg aus dem 16. Jahrhundert, die längst in Wohn- und Geschäftshäuser verwandelt wurde.
Sehenswerte Hausfassaden säumen die Wiener Straße, die mich zum Hauptplatz führt. Der Stadtturm, das 60 Meter hohe Wahrzeichen der Stadt Enns, wurde in einer wirtschaftlichen Blütezeit im Jahr 1568 fertiggestellt und ersetzte die baufällig gewordene Scheiblingkirche. Auf eine neue Kirche an diesem zentralen Ort konnten die protestantischen Bürger verzichten, nicht aber auf einen neuen Turm. Er dient noch heute als Uhrturm und als Glockenturm, nur als Wachturm hat der Ennser Stadtturm ausgedient. Stattdessen ist er zum Aussichtsturm mutiert: 157 Stufen gilt es zu erklimmen. Wer es bis ganz nach oben schafft, vorbei an den Glocken und dem alten Uhrwerk, wird mit Aussichten in alle Himmelsrichtungen und einem Blick auf die geschlossenen Häuserfronten am Hauptplatz belohnt.
Im Kern sind viele dieser Gebäude spätgotisch, doch ihre Fassaden wurden zumeist barockisiert. Nicht selten sind die neuen Vorderfronten deutlich höher als die Häuser selbst. Sie wurden einfach vor die alten Fassaden gesetzt und vom Gehsteig aus kann ich bei manchen Gebäuden durch die oberen Fenster den Himmel sehen.
Gleich neben dem Stadtturm befindet sich die Tourismus-Information, wo mir ein Spaziergang auf den Spuren der römischen Geschichte empfohlen wird: Die Via Lauriacum vermittelt eindrucksvoll die Dimensionen des römischen Legionslagers, das nach der noch viel älteren keltischen Siedlung Laurikon benannt wurde.
Lauriacum diente zum Schutz des Donaulimes, der Nordgrenze des Römischen Reiches, und entwickelte sich zum wichtigsten Militärstützpunkt zwischen Regensburg und Wien. 2021 wurde der westliche Teil des ehemaligen Donaulimes in den erlauchten Kreis der Weltkulturerbe-Stätten aufgenommen.
Der zirka zweistündige Rundweg führt mich zu allen wichtigen Punkten der antiken Siedlung. Bedeutende Funde sind entlang der Strecke allerdings nicht zu sehen, denn die sind im Museum Lauriacum ausgestellt, das eine der besten römischen Schausammlungen in Mitteleuropa beheimatet.
Über Schloss Ennsegg gelange ich über den Schlosspark zum Georgenberg, den nördlichsten Ausläufer des Ennser Stadtberges. Auf diesem Höhenrücken befand sich eine jungsteinzeitliche Siedlung, lange bevor die Römer auf diesem markanten Geländesporn ein Heiligtum errichteten. Vorbei am ehemaligen Zentralgebäude, der Principia des Legionslagers, in dem sich auch das Bad und das Spital befanden, führt mein Weg in den Ennser Stadtteil Lorch, zur Basilika St. Laurenz, dem interessantesten Punkt auf der Via Lauriacum. Wo sich heute die gotische Basilika befindet, die aus einer romanischen Kirche hervorging, stand ursprünglich eine vornehme römische Villa. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts wurde genau an dieser Stelle das erste Gotteshaus errichtet, das zu den bedeutendsten frühchristlichen Stätten Österreichs zählte. Mauerreste dieses Gebäudes sind hinter dem Altar frei zugänglich. Im Hauptaltar ist ein uralter Steintrog zu erkennen. Darin befinden sich die Reliquien des Heiligen Florian und weiterer Märtyrer, die im Jahr 304 in Lauriacum sterben mussten.
Auf dem Rückweg zum Hauptplatz bewundere ich die schönen alten Häuser an der Linzer Straße. Der abschließende Höhepunkt meines Enns-Besuches ist ein Rundgang durch das Museum Lauriacum im ehemaligen Rathaus. Es überrascht mit einer Vielzahl an Grabreliefs, Glasgefäßen, Silberbechern und römischen Wandmalereien.
Die Heimreise nach Wien trete ich vom Bahnhof Enns an. Zunächst fahre ich wieder zurück nach Linz und von dort bringt mich ein Schnellzug direkt nach Hause.
Mein Fahrplan am 21.3.2022:
Wien Hbf. ab 07:30, Ennsdorf Bf. an 09:13 (über Linz Hbf.) Retour: Enns ab 16:31, Wien Hbf. an 18:05 (über Linz Hbf.) CO2-Emissions-Ersparnis gegenüber einer Fahrt im eigenen PKW: 73,60 kg
* Dieser Text ist eine vom Autor gekürzte Fassung von Kapitel 4 seines Buches Österreich mit dem Klimaticket entdecken – 20 Ausflüge mit Bus und Bahn.