
Wienblicke von oben
Von Reinhard Mandl*
Heute bin ausnahmsweise nicht ich der Ausflügler, der von Wien aus mit Bahn oder Bus das Land erkundet. Ich schlüpfe in die ungewohnte Rolle des Reiseführers: Gemeinsam mit einem Freund aus Weitra wandere ich auf den Leopoldsberg und weiter zum Kahlenberg. Wir blicken hinunter auf Wien und stellen fest, dass nicht nur Stephansdom und Riesenrad das Bild der Bundeshauptstadt prägen, sondern auch die vielfältigen Landschaftsformen, die in Wien auf engstem Raum zusammentreffen.
Ausgangspunkt
Bushaltestelle (oder Bahnhof) Wien Nussdorf
Anfahrt
Von Gmünd Bahnhof:
02:01 – 2:12 mit dem REX 41
Von Linz Hauptbahnhof:
1:35 mit der WB 909 und S 45
1:37 mit RJX 61 und U6/U4
Von Wiener Neustadt Hauptbahnhof:
1:10 mit REX 1/REX 3 und U4
Mein Freund Toni kommt regelmäßig mit der Franz-Josefs-Bahn aus dem Waldviertel nach Wien. Dutzende Male hat er nahe der Stadtgrenze auf den Leopoldsberg geschaut und sich gedacht: „Da möchte ich auch einmal hinauf!“
Heute ist es endlich so weit. Wir sind am Bahnhof Wien Heiligenstadt verabredet und fahren ein paar Stationen mit dem Bus 400 nach Nussdorf. Entlang der Donaupromenade wandern wir zunächst ins Kahlenbergerdorf. Der Ort gehört seit 1891 zu Wien und konnte seinen Charakter als Weinbauerndorf dennoch weitgehend unbeschadet erhalten.
Ein Obelisk markiert den Startpunkt des Nasenweges. Von nun an geht es steil bergauf! Immer wieder bleiben wir auf dem eineinhalb Kilometer langen Panoramaweg stehen und blicken durch verkrüppelte Flaumeichen-Äste hinunter zur Donau. Diese wärmeliebende Baumart ist in unseren Breiten selten anzutreffen. Doch hier gedeiht sie prächtig, denn die „Nase“ kommt durch ihre Nähe zur Donau in den Genuss des milden pannonischen Klimas. Große Teile des Leopoldsberges liegen in den besonders streng geschützten Kernzonen des Biosphärenparks Wienerwald, wo möglichst ohne menschliche Eingriffe der „Urwald von morgen“ entstehen soll.
Kehre um Kehre steigen wir hinauf, und nach einer halben Stunde Gehzeit erreichen wir die „große Aussichtskanzel“. Wir blicken auf die Weingärten am Nussberg und über die Donau schweift unser Blick bis ins flache Marchfeld. Die wellige Linie am Horizont? Das sind die Kleinen Karpaten! Sie liegen bereits in der Slowakei.
Nach einer kurzen Rast gehen wir weiter zum höchsten Punkt des Leopoldsberges. Ursprünglich stand hier eine landesfürstliche Burg der Babenberger, vermutlich aus dem 12. Jahrhundert. Trotz ihrer strategisch günstigen Lage wurde sie bald dem Verfall preisgegeben. Das heutige Schloss auf dem Leopoldsberg entstand zeitgleich mit der Kirche um 1720, nachdem das gesamte Areal zuvor mit dem Schutt der alten Burg eingeebnet worden war.
Schon von Weitem haben wir die Kirche am Leopldsberg gesehen, doch jetzt, wo wir direkt vor ihr stehen, bekommen wir sie nicht zu Gesicht. Sie versteckt sich hinter wuchtigen Steinmauern im Innenhof der Schlossanlage.
Beim Rundgang entlang der Außenmauer blicken wir im Westen auf das Augustiner Chorherren Stift Klosterneuburg hinunter, zu dessen Besitz auch das Schloss am Leopoldsberg zählt. Toni ist fasziniert vom Blick auf die Donauinsel und kann kaum glauben, dass dieser grüne Streifen 21 Kilometer lang sein soll. Am nördlichen Spitz befindet sich ein Einlaufwerk. Hier kann bei Hochwasser die Einlaufmenge in die künstlich geschaffene Neue Donau reguliert werden.
Vom Leopoldsberg gehen wir parallel zur Höhenstraße zur Josefinenhütte, wo wir im lauschigen Gastgarten zum Mittagessen einkehren.
Als wir nach einer guten Viertelstunde Gehzeit von der Josefinenhütte das Halbdunkel des Waldweges verlassen, ist das Erste, das wir vom Kahlenberg sehen, eine riesige kahle Asphaltfläche. Die lassen wir rechts liegen und steuern zielstrebig auf die Aussichtsterrasse zu, vorbei an Souvenir- und Imbissbuden.
Wow! Dieser Blick auf Wien entschädigt für den doch eher nüchternen Zugang zu diesem beliebten Aussichtsberg. Unglaublich grün wirkt die Stadt von hier oben. Und erst die bewaldeten Wienerwaldberge im Westen! Wie undurchdringlich erscheinen sie aus der Ferne. Aus dem Häusermeer Wiens ragen einige Landmarken deutlich heraus: die Wienerberg-City etwa, oder die klotzigen Türme des Allgemeinen Krankenhauses. Auch die Praterauen sind deutlich auszumachen und dahinter beginnen schon die pannonischen Weiten, ein völlig anderes Landschaftsbild. Auch der Nationalpark Donau-Auen ist vom Kahlenberg aus eindeutig zu verorten. Unglaublich, wie vielfältig die Landschaften sind, die im Wiener Stadtgebiet auf engstem Raum zusammentreffen.
Bereits 1874 eröffnete der erste Beherbergungsbetrieb auf dem Kahlenberg seine Pforten. In diesem Jahr nahm auch die Kahlenbergbahn ihren Betrieb auf. Diese Zahnradbahn verkehrte bis nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Nussdorf und dem Kahlenberg. In der Zwischenkriegszeit kam es im Zusammenhang mit der Errichtung der Wiener Höhenstraße zum Umbau des Restaurants. Das aktuelle Erscheinungsbild am Kahlenberg geht auf das Jahr 2003 zurück, als das lange Zeit leerstehende und baufällig gewordene Gebäudeensemble teilweise durch Neubauten ersetzt wurde.
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz werfen wir einen Blick in die Kirche St. Josef. Eine Gedenktafel an der Außenmauer erinnert an den Wien-Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. im September 1983 – genau 300 Jahre nach der Befreiung Wiens von den Türken. Die Ursprünge der Kirche gehen auf eine Klostergründung im 17. Jahrhundert zurück, als Ferdinand II. auf dem Kahlenberg, der damals noch „Sauberg“ hieß, hier eine Eremitage für Kamaldulensermönche ermöglichte. Rund um die ehemaligen Klosterzellen entwickelte sich der kleine Ort Josefsdorf.
Mit dem Bus fahren wir am frühen Nachmittag hinunter zum Bahnhof Heiligenstadt und anschließend mit der U4 bis zum Schottenring. Bevor Toni am Franz-Josefs-Bahnhof die Heimreise ins Waldviertel antritt, bleibt noch Zeit für Kaffee und Kuchen.
* Dieser Text ist eine vom Autor gekürzte Fassung von Kapitel 12 seines Buches Österreich mit dem Klimaticket entdecken – 20 Ausflüge mit Bus und Bahn.